Pawn Sacrifice – ein Film über Schachgeschichte(n)

SONY DSCAm 29. April ist „Pawn Sacrifice“ in Deutschland an den Start gegangen. Im Mittelpunkt steht der WM-Kampf zwischen Boris Spassky und Bobby Fischer, der 1972 im isländischen Reykjavik ausgetragen wurde. Lohnt sich der Kinobesuch? Eindeutig ja – „Pawn Sacrifice“ ist ein überzeugender Film über Schachgeschichte geworden.

Der Anfang von Edward Zwicks „Pawn Sacrifice“ packt das ganze Drama in ein bekanntes Bild. Robert James Fischer, von seinen Fans auch salopp „Bobby“ genannt, nestelt an einem Telefonhörer herum. Wir schreiben das Jahr 1972, wir sind in Reykjavik, genauer gesagt am Anfang des legendären „Match of the Century“ zwischen dem Schachweltmeister Boris Spassky und seinem Herausforderer „Bobby“ Fischer. Und der sucht Wanzen in seinem Telefon, fest davon überzeugt, dass ihn der KGB abhört. Oder vielleicht auch die CIA?

Cineasten kennen das Szenario aus „The Conversation“ (1974) und anderen Paranoia Movies der 1970er Jahre. Filme, in denen geschnüffelt, abgehört und belauscht wurde – oft mit tödlichen Folgen. In Francis Ford Coppolas Film ist es Gene Hackman, der auf der Suche nach Spyware seine Wohnung komplett demontiert. Der beängstigende Wahnsinn dieser Szene gehört zu den berühmtesten Bildmetaphern des Genrekinos. Auch Fischer wurde von ähnlichen Ängsten gequält, auch sie sind von ungesunder Natur. „Pawn Sacrifice“ findet dafür starke, lange nachhallende Bilder.

Für den nerdigen Teil der Kinogänger und ihren harten, mittlerweile reichlich in die Jahre gekommenen Kern von Schachenthusiasten ist „Pawn Sacrifice“ eine rasante Tour de Force, die einen Mythos zum Leben erweckt. Da fegt „Bobby“ Fischer in den Kandidatenmatches einen Gegner nach dem anderen aus dem Ring, egal, ob es der schwer zu schlagende Tigran Petrosjan ist oder Bent Larsen, der unorthodoxe Däne. Der zart besaitete Mark Taimanov erholte sich nie wirklich von seiner vernichtenden Niederlage gegen Fischer. Und dann das große Match gegen Spassky: Fischer verliert die erste Partie, tritt zu zweiten erst gar nicht an und sucht stattdessen nach Wanzen.

Nur BILD druckte die Züge

Persönlich kann ich mich noch recht gut an den Hype erinnern, der 1972 herrschte. Die sowjetische Schachschule dominierte weltweit die Turniere, die russischen Großmeister galten als unbezwingbar. Ein Sieg Fischers war trotz seiner enormen Erfolge nicht denkbar. Damals war mein Interesse an Schach sehr groß, aber es waren Zeiten ohne Internet und ohne große Werbung für den Sport. Bücher waren rar, ich saß damals mit einem Goldmann-Taschenbuch von Teschner vor einem kleinen Schachbrett mit noch kleineren Schachfiguren und spielte „Meisterpartien“ nach.
Schachvereine in Osnabrück? Keine Ahnung. In der Zeitung stand ja nichts. Wenn man Schach spielen wollte, ging man ins Cafe Meyer am Pottgraben, wo im 1. Stock die Bretter standen und alte Männer ihre Zigarrenasche aufs Brett bröselten. Dazwischen ein paar Jungspunde, die immer wieder die Drachenvariante spielten. Alles war grau und bieder, aber die Leidenschaft fürs Spiel hatte irgendwie Swing. Als dann nach dem sattsam bekannten Geplänkel vor dem Match endlich von dem ‚weißen Ritter’ Bobby Fischer und dem ‚Kommunisten’ Boris Spassky in Island Schach gespielt wurde, hatte das einen unglaublichen Impact. Die Szene war elektrisiert, die Partien konnte man in der BILD-Zeitung nachspielen.
Das Match selbst war kinoreif, denn nach dem 0-2 kam Fischer zurück wie der Phönix aus der Asche und spielte den „russischen Bären“ schwindelig. „Bobby“ wurde mit 12,5-8,5 neuer Weltmeister, Schach war plötzlich angesagt, alle wollten es spielen.
Von diesem Hype haben die Schachvereine enorm profitiert, zumal Fischers Erfolg auch ein ökonomischer war: der Amerikaner hat auch westlichen Schachprofis den Weg geebnet, man konnte mit Schach Geld verdienen. Schach wurde nicht als Abart von Halma wahrgenommen, sondern als tougher Sport. Dass der ’weiße Ritter’ womöglich ein veritabler Paranoiker und mit Sicherheit ein bekennender Antisemit war, wurde erst viel später bekannt.

Endlich ein Schachfilm ohne Macken – und mit starken Darstellern

Edward Zwick (u.a. „Last Samurai“, „Blood Diamond“, „Love & Other Drugs“), der seine Meriten nicht gerade als Regieexperte für Sportfilme erworben hat, bringt in „Pawn Sacrifice“ das Kunststück fertig, die politischen und pathologischen Ambivalenzen des Wettkampfes zwischen den beiden Titanen sowohl für Schachfans als auch für Zuschauer ohne großes Vorwissen nacherlebbar zu machen. Und das mit Tempo. Nach dem einleitenden Flashback springt der Film in die 1950ziger, in jene Jahre, in denen Bobby Fischer in Brooklyn inmitten einer linken Multi-Kulti-Szene sozialisiert wird. Seine erste Lektion gibt ihm seine Mutter: Traue Fremden nicht, sie wollen wissen was wir denken, was wir sagen.
Der Junge wächst ohne Vater auf, beginnt sich früh für Schach zu interessieren. Seine erste Partie verliert er im Brooklyn Chess Club gegen Carmine Nigro, die Nr. 25 von N.Y. Bobby weint, ist wütend, dann dreht er sich um und sagt: „Noch mal.“ Der Junge habe großes Potential, sagt sein Gegner beeindruckt und Zwick packt den turbulenten Aufstieg des Wunderkinds in schnelle Teaser, deren beeindruckende Settings nicht nur mit dem Original-Score von James Newton Howard unterlegt werden, sondern auch mit programmatischen Songs wie „I’m A Man“ von der Spencer Davis Group oder dem legendären Drogen-Kultsong „White Rabbit“ von Jefferson Airplane, die den Zeitgeist der 1970er und 1970er Jahre flott nachzeichnen. Die zügige Montage aus dokumentarischem Material (1), Spielszenen und Mockumentary führt uns zum erwachsen gewordenen „Bobby“, der 1962 in einem Kandidatenturnier zum ersten Mal das Gefühl hat, von der sowjetischen Schachmacht erdrückt zu werden: Alle russischen Großmeister remisieren entweder schnell oder schieben sich die Punkte zu, alles natürlich, um ihn fertig zu machen.

Spätestens wenn Ex-Spiderman-Darsteller Tobey Maguire in die Rolle des jungen Großmeisters schlüpft, bekommt der Film eine erstaunliche Authentizität. Maguire vermeidet die Klischees eines Genies am Rande des Wahnsinns, er spielt Fischer sehr nuanciert als selbstbewussten und gelegentlich durchaus charmanten Rockstar, der das haben will, was ihm vermeintlich zusteht. Dies schafft Raum für das Selbstquälerische und Pathologische, das sich langsam an ihn heranschleicht.
Gut, Boris Spassky verriet in einem Interview mit ChessBase, dass dies nicht Fischer gewesen ist, den er auf der Leinwand gesehen hat, und überhaupt sei der Film schlecht. Das kann man durchaus ernst nehmen, aber Tobey Maguire hält meiner Meinung nach die notwendige Balance zwischen Fiktion und Realität ziemlich gut. Und die entsteht nur selten durch akribische Reproduktion von Fakten, sondern durch eine künstlerische Interpretation, die ohne dramaturgische Freiräume nicht gelingen kann.

Dies klappt auch, weil der Star des Films keine One-Man-Show abzuliefern hat. „Pawn Sacrifice“ ist nämlich auch die Geschichte eine schwierigen Männerfreundschaft, und zwar jener zwischen Fischer und seinem Coach William Lombardy (Peter Sarsgaard, u.a. „Black Mass“), einem katholischen Geistlichen und bekannten amerikanischen Schach-Großmeister. Er betreute Fischer bereits in jungen Jahren. Lombardy, der unter anderem Psychologie studiert hatte, ist in Zwicks Film derjenige, der als Erster die seelischen Probleme des Heranwachsenden erkennt und in Krisensituationen als Einziger in der Lage ist, „Bobby“ einigermaßen unter Kontrolle zu bringen.
Unter Schachhistorikern ist William Lombardys Rolle nicht unumstritten. Spassky bezeichnet ihn noch heute als konspirativen Ideologen, der Fischer massiv unter Druck gesetzt hat. Unabhängig davon ist Peter Sarsgaards Performance in dem Film ein darstellerisches Highlight zwischen nachdenklicher Beobachtung, analytischer Kühle und distanzierter Empathie. Letztere ist durchaus angemessen, denn Fischers Wutausbrüche konnten auch ihm nahestehende Personen aus dem großen Spiel werfen.

Etwas mysteriöser fällt dagegen die Rolle aus, die Michael Stuhlberg als Paul Marshall spielt. Marshall, der sich selbst als begeisterten Patrioten darstellt, gehörte zu Entourage von Fischer – ein Anwalt zwischen jovialen Hilfsdiensten und etwas zwielichtigen Beziehungen zu anonymen Fischer-Sponsoren. Marshall war mit den Abläufen im Showbiz vertraut und ebnet in „Pawn Sacrifice“ im Jahre 1962 dem Jungstar mit den ruppigen Allüren und handfesten Rücktrittsabsichten die Rückkehr in die Schacharena. Auch in finanzieller Hinsicht. Ob Marshall ein Verbindungsmann der US-Regierung war, ist bis heute ungeklärt.

Liev Schreiber („Spotlight“) hat als Boris Spassky nur wenig Text in dem Film, gibt seiner Rolle als leicht unterkühlter, aber psychologisch intelligenter Gegner Fischers die erforderliche Präsenz. Die Chemie zwischen den Darstellern scheint gestimmt zu haben: als Spassky sich während des Wettkampfes seinen Sessel quietschen hört, untersucht er ihn coram publico. Fischer schaut ihm genüsslich zu: glänzend von beiden gespielt. Die Röntgenuntersuchung des Sitzgeräts ermittelte übrigens zwei tote Fliegen und den Rest des Wettkampfes saß Spassky auf dem gleichen Modell, das auch Fischer benutzte.

Das große Match endete mit einem Telefongespräch

Der Hauptteil des Films konzentriert sich auf das Match zwischen Fischer und Spassky. Zwicks Film hat besonders in diesen Szenen seine Stärken, denn Tobey Maguire als „Bobby“ Fischer gleitet in Reykjavik langsam in den Verfolgungswahn hinein. Auch wirre Verschwörungstheorien und antisemitische Tiraden nehmen zu. Die Ereignisse sind bekannt: Fischer verzögerte Anreise, seine Forderungen nach mehr Geld (er kriegt es), seine Klagen über zu laute Kameras und die vermeintlichen Störungen durch das Publikum – all dies zeigt Zwick durchaus als Symptome einer klinisch relevanten Paranoia, aber auch (wie auch zu Beginn des Films) als Reaktion eines hypersensitiven Menschen (2).
Ach ja, auch Spassky beginnt irgendwann damit, seine Lampen zu untersuchen.

Die Rekonstruktion der Ereignisse auf den 64 Feldern gelingt dem Film überaus fesselnd, in schachlicher Hinsicht muss sich „Pawn Sacrifice“ keine Vorwürfe gefallen lassen. Natürlich werden die Spielphasen zeitlich forciert, aber im Gegensatz zu vielen anderen Filmen, in denen Schach eine Rolle spielt, wurde nicht gepfuscht. Die entscheidenden Partien werden korrekt gezeigt, zum Beispiel Fischers spektakulärer Springerzug in der 3. Partie (Modernes Benoni). Nur einige Details wurden dramaturgisch nachgebessert: so gab Fischer in der berühmten 1. Partie nicht sofort nach Spasskys Antwortzug auf, als er den vergifteten Bauern geschlagen hatte. Die Partie zog sich tatsächlich noch etwas länger hin, in Zwicks Film wird das Ganze als Einsteller gezeigt, der einer massiv idiosynkratischen Stressreaktion Fischers geschuldet ist.

Höhepunkt ist dann die 6. Matchpartie. Fischer spielt 1.c4, später entsteht die Tartakower-Verteidigung, mit der Spassky noch nie verloren hatte. Fischer gewinnt die Partie in großem Stil, Spassky steht auf und applaudiert. Glaubt man den Quellen, blieb Spassky erschüttert sitzen und beteiligte sich erst am Beifall, als der Saal vor Begeisterung tobte.

Der Rest ist Geschichte. Auch für Zuschauer, die ansonsten wenig mit Schach zu tun haben, funktioniert „Pawn Sacrifice“ als kluger Vertreter des Sportfilm-Genres. Das „Jahrhundertmatch“ als gehypter Stellvertreterkrieg zwischen Ost und West wird mit starken Bildern zu einem gekonnten Mix aus ideologischen Backstorys und dem überzeugenden psychologischen Portrait eines Schachgenies, dessen Monomanie hässliche und bizarre Züge besaß, der aber der Schachwelt Partien hinterließ, die bis heute nicht ihre Schönheit verloren haben. Fischer war, glaubt man „Pawn Sacrifice“, ein Mensch, dem Siege beim Schach große Lust verschafften, der sich aber nie wirklich freuen konnte. Die letzte Partie des Wettkampfes gab Spassky übrigens telefonisch auf.

Fußnoten

(1) Der bekannte Auftritt Fischers in der Dick Cavett Show ist ebenfalls zu sehen: Tobey Maguire wurde digital in die Original-Aufzeichnung eingefügt. Befragt, worin sein größtes Vergnügen beim Gewinnen besteht, antwortete er Cavett: „Well, when you break his ego“ – gemeint waren natürlich Fischers Gegner.

(2) Sensory Processing Sensitivity ist ein bekanntes Syndrom, das sich durch eine Überreizung der Wahrnehmung, außergewöhnlich subtile Empfindlichkeit (Lärm, Schmerz, visueller Input), aber auch durch übersteigerten Gerechtigkeitssinn und manischen Perfektionismus ausdrückt und besonders häufig bei Personen mit Borderline oder bipolaren Störungen zu beobachten ist.

Pawn Sacrifice – Deutscher Verleihtitel: „Bauernopfer – Länge: 115 Minuten – Regie: Edward Zwick – Screenplay: Steven Knight – Darsteller: Tobey Maguire (Bobby Fischer), Liev Schreiber (Boris Spassky), Peter Sarsgaard (William Lombardy), Michael Stuhlbarg (Paul Marshall), Brett Watson (Lothar Schmid).

Quellen: http://de.chessbase.com/post/interview-mit-boris-spassky-teil-1